Freinacht zwischen Allerseelen und Allerheiligen

Aufgezeichnet, bearbeitet und in Form gebracht von Karl-Heinz Reimeier, Kreisheimatpfleger in Freyung-Grafenau.

Ein junger Bursche war in der Nacht vom Allerheiligen- zum Allerseelentag unterwegs zu seiner künftigen Braut. Diese wohnte zwischen den Ortschaften Kirchdorf und Marbach. Er ging voller Vorfreude, fröhlich und kreuzfidel dahin, sang lustige Lieder und spielte schneidige Melodien auf seiner Mundharmonika. Dies war äußerst ungeschickt, weil an diesen Tagen der Toten gedacht wurde und der Respekt vor ihnen Ruhe und innere Einkehr gebot. Nachdem er sich von seiner Braut spät in der Nacht verabschiedet hatte, machte er sich über die Kraftmühle und den Hessenstein auf den Weg nach Hause.

Voller Frohsinn und die Mundharmonika an den Lippen marschierte er durch den Wald. Da näherte sich ihm von hinten her ein Brautpaar, wie aus dem Nichts. Es folgte ihm in kurzem Abstand, dann sauste es, wie der Blitz, haarscharf an ihm vorbei und verschwand, so plötzlich, wie es gekommen war, zwischen den Bäumen. Der Bursche dachte sich nichts dabei und spielte munter weiter. Er mag an die dreihundert Meter gegangen sein, als wieder ein Brautpaar mit wehenden Kleidern an ihm vorbeihuschte. „Ja Herrschaftsdonnerwetter!“, dachte er bei sich. „Was ist denn jetzt da los? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“

Mitternacht war es bereits geworden und er befand sich auf einem Weg, der nur wenig genutzt wurde. Während er seinen Gedanken nachhing, huschte gerade wieder ein Brautpaar an ihm vorbei, und noch eines – und noch eines. Und es wurden immer mehr und immer mehr und er wusste nicht mehr, wie ihm geschah. Angst stieg in ihm auf, er beschleunigte seine Schritte und er lief, schneller, immer schneller. Da – das nächste Brautpaar! Husch! – Und schon war es an ihm vorbei. Nun war es ihm endgültig zu viel.

Er rannte nach Klingenbrunn hinein, durch Klingenbrunn hindurch bis hin zum Hopfengarten. Dort hörte er von der Ferne das Geräusch von Pferdehufen, das rasch näher kam, er hörte das Wiehern der Pferde und tatsächlich kam mit ungeheurer Geschwindigkeit ein Sechsergespann auf ihn zu, vorgespannt einem hohen und langen hölzernen Wagen. „Ja Himmel!“, fährt es ihm durch den Kopf, „die rennen mich zu Tode!“ Er wollte zurückweichen, konnte sich aber nicht von der Stelle bewegen. Und die Pferde bäumten sich vor ihm auf – und da sah er es ganz deutlich: alle Brautpaare, die kurz vorher an ihm vorbeigekommen waren, grinsten hämisch vom Wagen auf ihn herab.

Gottseidank kehrte in diesem Moment wieder Leben zurück in seinen Körper und er fing zu laufen an, so schnell er konnte, heim und sofort hinein ins Bett. Geschwitzt hat er, dass ihm das Wasser auf der Haut stand.

Am andern Tag, als wieder ein Werktag war, war er immer noch so geschwächt, dass er nicht zur Arbeit gehen konnte. „Sage und schreibe“ drei Tage dauerte es an, bis er sich wieder einigermaßen erholt hatte. Erst am dritten Tag war es ihm möglich, das Erlebnis seiner Mutter zu erzählen. Die nickte mit dem Kopf. „Bub“, hat sie gesagt, „das tut man nicht. Die Allerseelennacht gehört den Verstorbenen. Da schickt es sich nicht, Musik zu machen. Und außerdem: Hättest du deinen geweihten Rosenkranz auf den Wagen geworfen, hättest du viele arme Seelen vor der ewigen Verdammnis retten können!“

Bei den Brautpaaren handelte es sich um „arme Seelen“ und die waren in der Allerseelennacht auf der Suche nach jemanden, der sie „erlösen“ könnte.

Diese Geschichte, so hat es mir der Erzähler versichert, ist wirklich wahr.



(Mitgeteilt haben mir die Geschichte mehrere Personen, in ähnlicher Form vor allem Fritz Süß aus Hochreuth, einem Ortsteil aus Spiegelau, der am 30. Oktober 1918 in Klingenbrunn geboren wurde.)



Zu den Orten:

Kirchdorf im Wald liegt im Landkreis Regen direkt an der Grenze zum Landkreis Freyung-Grafenau an der Bundesstraße 85, nahe an den Orten Marbach und Kraftmühle. Der Ort wurde bereits im Jahre 1144 gegründet, damals noch unter den Namen Maria-Berg und Maria im Wald.

Marbach, Landkreis Freyung-Grafenau, ist ein Ortsteil von Eppenschlag, liegt unweit von Kirchorf im Wald auch an der Bundesstraße 85. In Marbach lebte der Schriftsteller Franz Schrönghamer-Heimdal, dem 1951 die Ehrenbürgerwürde des Ortes Eppenschlag verliehen wurde.

Kraftmühle, Landkreis Freyung-Grafenau, ist ein Ortsteil von Eppenschlag

Der Hessenstein ist ein Berg mit 878 Metern Höhe. Um ihn herum befinden sich die Ortschaften Kirchdorf im Wald, Klingenbrunn und Eppenschlag.

Klingenbrunn, Landkreis Freyung-Grafenau, hervorgegangen aus einem Glashüttengut aus dem 15. Jahrhundert, liegt am Fuße des Rachel auf einer Anhöhe von 818 Metern über dem Meer.